Gemeingefährliche Schießerei

Ein weiterer Artikel in der Tageszeitung von 1909:

Gemeingefährliche Schießerei.

Am Sonntag und Montag hielt die hiesige Schützengesellschaft ein Preisschießen ab. Dabei ging, wie dies schon öfter der Fall war, eine Kugel durch und hart über die Köpfe der bei der Friedhofserweiterung beschäftigten Arbeiter hinweg. Vor Schrecken bleich verließen die Arbeiter eiligst die Arbeitsstätte. Es darf wohl als Glück bezeichnet werden, dass sich nicht einer von ihnen in seinem Blute wälzte. Sehr notwenig haben es nun natürlich die Beschwichtigungskommissäre, die unter allen möglichen Ausreden die Sache als unmöglich hinstellen möchten; sogar davor schreckt man nicht zurück, den Leuten den beleidigenden Vorwurf zu machen, sie hätten nur Grund zum Blaumachen gesucht. Wo Leute mitschießen, die sich auch als angehende Nimrode versuchen, und denen von ihren Freunden für ein auf den ersten Schuss getroffenes Rebhuhn 45 Mark garantiert werden, ist alles möglich.

Im übrigen kann es als Gunst des Schicksals bezeichnet werden, dass die der Gefahr zunächst gestandenen beiden Arbeiter Unorganisierte sind, denn gewisse Leute würden sich andernfalls nicht genieren, zu behaupten, die ganze Sache sei von den Roten bestellt und inszeniert. Die Beiden sind bereit, die Angelegenheit unter Eid zu bestätigen. Ganz abgesehen davon ist dies nicht der erste Schuss, der sein Ziel verfehlt hat. Im Laufe des Sommers sind Geschosse bis heraus in den Hacker’schen Garten gedrungen.

Auch andere Angrenzer können von Durchgängern berichten. Sie haben also den Friedhof in seiner ganzen Ausdehnung und die stets belebte obere Bahnhofstraße überflogen, und da soll nicht von Gemeingefährlichkeit die Rede sein?

Es dürfte dies endlich die Distriktspolizeibehörde veranlassen, hier energisch einzuschreiten und einen schon längst ungeeigneten, gemeingefährlichen Schießplatz, parallel mit der Distriktsstraße laufend, am Kopfe den Friedhof und die Bahnhofstraße streichend, außer Betrieb zu stellen, ehe ein Unglück passiert.

Die Sache hat aber auch noch eine andere Seite: Wer entschädigt den Arbeitern ihren Lohnausfall? Soviel wir wissen, verweigert dies der Arbeitgeber. Nach unserer Auffassung aber hat er, der Gewerbeordnung zufolge, die Pflicht dazu, denn in erster Linie obliegt es ihm, für Arbeitsbedingungen zu sorgen, die eine Gefahr für Leben und Gesundheit seiner Arbeiter ausschießen. Dies war hier nicht der Fall; die Arbeiter handelten indessen völlig korrekt, wenn sie ohne weiteres diese gemeingefährliche Arbeitsstelle verließen. Der Arbeiter kann sich nur an den Unternehmer halten, wenn auch, wie in diesem Falle, er der direkt Schuldige nicht ist; er kann dann eben seinerseits sich an den die Arbeitsunmöglichkeit Herbeiführenden – in diesem Falle die Schützengesellschaft – wegen Schadloshaltung wenden. Die Arbeiter aber dürfen unter keinen Umständen an einem sie unverschuldeterweise betroffenen Lohnausfall zu leiden haben.

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